Zu der heute im Standard von Verfassungsrichter Rudolf Müller aufgestellten Behauptung, die von der HOSI Wien vorgebrachten Argumente im Zusammenhang mit ihrer Kritik an den 209er-Erkenntnissen des VfGH aus 1989 und 2002 seien unrichtig, stellt die HOSI Wien folgendes fest:
Müller behauptet, das Argument betreffend die „wechselnde Strafbarkeit“ sei den Verfassungsrichtern vor einem Jahr erstmals unterbreitet worden, in der im November 1988 eingebrachten und 1989 vom VfGH entschiedenen Beschwerde sei sie hingegen nicht „als Gleichheitsbedenken geltend gemacht, sondern im Text lediglich erwähnt“ worden.
„Allein diese groteske Spitzfindigkeit – nicht als Gleichheitsbedenken geltend gemacht, sondern bloß im Text der Beschwerde erwähnt – zeigt, mit welcher erbärmlichen und blamablen Attitüde die Verfassungsrichter offenbar die Einhaltung der Verfassung und der Menschenrechte überprüfen“, ist HOSI-Wien-Generalsekretär Kurt Krickler fassungslos, daß der VfGH sich hier dermaßen selbst entlarvt. “Für den VfGH zählt offenbar nicht das Argument, sondern nur, wie es ihm serviert wird.“
Aber davon abgesehen wurde ihm das Argument korrekt dargereicht. Die entsprechende Passage findet sich als 3. Absatz des Punkts 5 im Abschnitt „C. Rechtsausführungen zur Frage der Gleichheitsverletzung“.
Müller behauptet laut Standard weiters, der HOSI-Antrag aus 1989 (richtig: 1988) habe „als formal nicht zulässig zurückgewiesen werden müssen“, in einem Folgeantrag sei die „wechselnde Strafbarkeit“ dann nicht mehr vorgekommen. Das trifft zu, widerspricht jedoch nicht unserer Darstellung: Die Zurückweisung der Beschwerde ändert ja nichts an der von uns festgestellten Tatsache, daß darin erstmals auf die „wechselnde Strafbarkeit“ hingewiesen wurde. Die Beschwerde aus 1988 wurde vom VfGH gemeinsam und gleichzeitig mit dem erwähnten, am 2. Jänner 1989 eingebrachten Folgeantrag im Oktober 1989 behandelt und entschieden. Es bestand keinerlei Hindernis, das Bedenken betreffend die „wechselnde Strafbarkeit“ aus dem zurückgewiesenen Antrag aufzugreifen und in die Entscheidung über den Folgeantrag einfließen zu lassen. Da der VfGH damals aber offensichtlich nur möglichst viele Argumente zur Abweisung der Beschwerden finden und nicht den Menschenrechten von Schwulen zum Durchbruch verhelfen wollte, hat er dieses Argument ignoriert.
„Die Rechtfertigung des VfGH zeigt, daß es ihm nur darum geht, sich mit möglichst geringem Gesichtsverlust aus dieser Affäre zu ziehen. Er hat 1989 ein Fehlurteil gefällt und weigert sich, dies einzubekennen. Da seit 1989 keine kopernikanische Wende in den Sexualwissenschaften stattgefunden hat, war es unmöglich, die in der Beschwerde aus 1988 ohnehin bereits widerlegte Prägetheorie 2002 nochmals zu widerlegen. Daher wollte man diesen Aspekt nicht behandeln und verfiel auf das neue Bedenken der „wechselnden Strafbarkeit“ als vermeintlichen Strohhalm und Rettungsanker. Pech eben, daß dieser Aspekt 1988 bereits vorgetragen wurde. Das nächste Unglück wird auf dem Fuß folgen: Straßburg wird sich demnächst mit der menschenrechtswidrigen Diskriminierung im § 209 aufgrund des Geschlechts und der sexuellen Orientierung befassen und hier dem VfGH eine ordentliche Lektion erteilen“, zeigt sich Krickler optimistisch und meint abschließend:
„Die VerfassungsrichterInnen haben in dieser Frage seit 1987, als sie die allererste von der HOSI Wien unterstützte 209er-Beschwerde aus 1986 abwiesen, alles falsch gemacht, was man falsch machen kann. Aus purer Homophobie haben sie sich in ein immer größeres Schlamassel hineinmanövriert. Es wäre höchst an der Zeit, sich in professionelle psychologische Supervision zu begeben und die unbewußten Motive zu erforschen und zu reflektieren, die offenbar Ursache dafür sind, daß es so weit kommen konnte. Vielleicht gelingt es ihnen ja irgendwann einmal, anzuerkennen, daß Menschenrechte unteilbar sind und auch für Lesben und Schwule gelten.“