Heute nachmittag hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg – Anm.: nicht zu verwechseln mit dem „Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften (EuGH)“ in Luxemburg – seine bereits am 3. Juli 2003 gefällte Entscheidung in der Beschwerde Nr. 40016/98, Karner gegen Österreich, veröffentlicht: Dass gleichgeschlechtliche hinterbliebene LebensgefährtInnen im Gegensatz zu verschiedengeschlechtlichen kein Eintrittsrecht in den Mietvertrag eines verstorbenen Hauptmieters nach § 14 Abs. 3 Mietrechtsgesetz haben, verstößt gegen die Europäische Menschenrechtskonvention, und zwar gegen Artikel 8 (Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens) in Verbindung mit Artikel 14 (Diskriminierungsverbot).
HOSI Wien unterstützte diesen historischer Präzedenzfall von ungeahnter Tragweite
„Wir sind überglücklich über dieses sensationelle Urteil“, erklärt Helga Pankratz, Obfrau der Homosexuellen Initiative (HOSI) Wien, die die Beschwerde unterstützt hat und zu Beginn des Verfahrens in Straßburg auch ein eigenes Spendenkonto dafür eingerichtet hat. „Denn die Ausführungen des Gerichtshofs schaffen einen nie dagewesenen Präzedenzfall von unglaublicher Tragweite. Der Straßburger Richterspruch bedeutet potentiell, dass jegliche gesetzliche Ungleichbehandlung von gleich- und verschiedengeschlechtlichen Lebensgemeinschaften menschenrechtswidrig ist. Und nicht nur in Österreich, sondern in allen 45 Mitgliedsstaaten des Europarats. Zwar schlägt er nicht unmittelbar auf die Rechtssysteme durch, aber aufgrund dieses Präzedenzfalles haben alle zukünftigen ähnlich gelagerten Beschwerden beste Erfolgsaussichten. Dieser Fall ist der erste vor dem EGMR, bei dem es um gleichgeschlechtliche Lebensgemeinschaften ging, und daher ist die positive Entscheidung ohne jeden Zweifel die wichtigste für Lesben und Schwule in der 50-jährigen Geschichte des EGMR. Deshalb sind wir auch so besonders stolz, dass wir als HOSI Wien die Beschwerde unterstützt haben. Ein historisches Ereignis von unglaublicher Dimension.“ Das Urteil berührt aber nicht die rechtlichen Unterschiede zwischen Ehe und Lebensgemeinschaft.
HINTERGRUND-INFO: Als der EGMR 1981 das Totalverbot der Homosexualität als konventionswidrig qualifizierte, hatten nur mehr drei der damaligen Mitgliedsstaaten ein solches Verbot. Als im Jänner 2003 der EGMR die höhere Mindestaltersgrenze (§ 209) als Konventionsverletzung einstufte, hatten nur mehr fünf der damals 44 Mitgliedsstaaten unterschiedliche Mindestaltersgrenzen. Heute behandeln nur zwölf der 45 Mitgliedsstaaten homo- und heterosexuelle PartnerInnenschaften gleich: Niederlande und Belgien (Ehe), Dänemark, Norwegen, Schweden, Island, Finnland, Frankreich, Portugal, Deutschland (Eingetragene PartnerInnenschaften) sowie Ungarn und Kroatien (rechtliche Gleichstellung der Lebensgemeinschaften). Das Potential der heutigen Entscheidung umfasst also 33 Staaten.
Politik muss mit Gesetzesänderungen reagieren
„Diese Entscheidung Straßburgs zeigt mit dramatischer Deutlichkeit, wie rückständig die Rechtsprechung der Höchstgerichte in Österreich in Fragen der Homosexualität noch ist und dass bei Österreichs HöchstrichterInnen – aber auch bei Österreichs schwarz-blauer Mehrheit – raschest ein radikales Umdenken einsetzen muss. Es muss endlich das Bewusstsein dafür geschaffen werden, dass Menschenrechte unteilbar sind und für alle gelten, also auch für Lesben und Schwule“, betont HOSI-Wien-Obmann Christian Högl. „Das Urteil aus Straßburg muss unmittelbare Konsequenzen haben: Alle Gesetze, in denen LebensgefährtInnen Berücksichtigung finden, sind von allen Gerichten ab sofort so auszulegen, dass sie auch für gleichgeschlechtliche LebensgefährtInnen gelten, auch wenn darin ausdrücklich von ‚Lebensgefährten verschiedenen Geschlechts‘ die Rede ist – letztere Fälle sind dann auch schleunigst vom Gesetzgeber zu reparieren. Nach diesem Grundsatzurteil dürfen in ähnlichen Fällen die Betroffenen nicht abermals auf einen rund neunjährigen Weg durch die Gerichtsinstanzen geschickt werden!“
HINWEIS: Ähnliche Bestimmungen, in denen entweder durch den Wortlaut des Gesetzes oder durch seine Auslegung seitens der Gerichte zwischen verschieden- und gleichgeschlechtlichen Lebensgemeinschaften unterschieden wird, sind beispielsweise § 16 Urlaubsgesetz (Pflegefreistellung) oder die Mitversicherungsmöglichkeit für den Partner/die Partnerin in der gesetzlichen Sozialversicherung.
Skandalöse menschenrechtswidrige Spruchpraxis der österreichischen Höchstgerichte
„Im Lichte der heutigen Entscheidung“, ergänzt HOSI-Wien-Generalsekretär Kurt Krickler, „erscheinen die jüngsten Erkenntnisse österreichischer Höchstgerichte noch skandalöser, etwa die unendliche Geschichte der Aufhebung des § 209 StGB durch den Verfassungsgerichtshof, die dann auch nicht wegen Gleichheitswidrigkeit, sondern wegen eines Nebenaspekts erfolgte, oder die mit haarsträubenden und hanebüchenen Argumenten begründete Entscheidung des Verwaltungsgerichtshofs vom Oktober 2001, gleichgeschlechtliche LebensgefährtInnen im Gegensatz zu verschiedengeschlechtlichen von der Mitversicherungsmöglichkeit in der Sozialversicherung auszuschließen (vgl. Aussendung vom 21. Jänner 2002). Die diskriminierende Entscheidung des Obersten Gerichtshofs in Sachen Mietrecht war ja leider kein Einzelfall!“
„Die Homophobie der österreichischen Höchstgerichte zieht sich wie eine roter Faden – oder sollte man lieber sagen: wie eine rote Blutspur – durch die Rechtsprechung. Die im höchsten Maße menschenrechtswidrige Spruchpraxis der drei genannten Höchstgerichte muss jetzt endlich ein Ende haben. Wenn die HöchstrichterInnen nicht imstande sind, die Menschenrechtskonventionen dem europäischen Standard entsprechend auszulegen, dann sind sie für ihren Job ungeeignet und sollten schleunigst abtreten“, meint Krickler weiter, der auch Vorstandsvorsitzender des Europäischen Lesben- und Schwulenverbands ILGA-Europa ist, der die Beschwerde Karner im übrigen mit einer Stellungnahme an den EGMR unterstützt hat: „Der Londoner Rechtsexperte und Universitätslektor Robert Wintemute hat das Gutachten für die ILGA-Europa verfasst, die auch über beratenden Status beim Europarat verfügt.“ Rechtsvertreter des Beschwerdeführers war die Wiener Kanzlei Lansky.
Die Chronologie des Falles:
Siegmund Karners Lebensgefährte verstarb im Jahr 1994 an AIDS. Dieser war alleiniger Hauptmieter der Wohnung, die sie länger als drei Jahre gemeinsam bewohnten. Da sie aber gleichgeschlechtliche Lebensgefährten waren, hatte Karner nach gängiger Rechtsprechung (die damals letzte veröffentlichte Entscheidung stammte aus 1986) kein Eintrittsrecht in den Mietvertrag. Obwohl Paragraph 14 Absatz 3 Mietrechtsgesetz geschlechtsneutral formuliert ist, wurde er nur auf verschiedengeschlechtliche LebensgefährtInnen angewendet. Der Vermieter warf Karner aus der Wohnung. Dieser klagte bei Gericht und bekam – sensationellerweise – im Jänner 1996 am Bezirksgericht Favoriten Recht, das die Auffassung vertrat, dass der Begriff „Lebensgefährte“ nunmehr zeitgemäßer und damit nicht-diskriminierend zu interpretieren sei, also auch gleichgeschlechtliche LebensgefährtInnen zu umfassen habe. Der Vermieter legte Berufung ein, aber auch das Landesgericht für Zivilrechtssachen Wien schloss sich der Ansicht des Bezirksgerichts an. Der Vermieter legte daraufhin Berufung beim Obersten Gerichtshof ein, der am 5. Dezember 1996 die Urteile der beiden ersten Instanzen aufhob und dem Vermieter Recht gab und die Kündigung für rechtens erklärte. Karner gab nicht auf und reichte Beschwerde beim EGMR ein. Am 5. Dezember 2000 erklärte dieser die Beschwerde für zulässig, womit die größte Hürde genommen wurde, an der ja 90 Prozent aller Beschwerden bereits scheitern. Karner sollte diese positive Nachricht jedoch nicht mehr erleben: Er war am 26. September 2000 völlig unerwartet an einem Herzinfarkt gestorben. Das Verfahren ging dennoch weiter. Es ist dem EGMR hoch anzurechnen, dass er aufgrund des allgemeinen und grundsätzlichen Interesses an der Klärung dieser Menschenrechtsfrage das Verfahren nach Karners Tod nicht aus seinem Register gestrichen hat, was nach Artikel 37 EMRK möglich gewesen wäre.
Die Republik Österreich hat nun die Möglichkeit, innerhalb von drei Monaten die Verweisung der Rechtssache an die Große Kammer des EGMR zu beantragen, die – sollte der Antrag angenommen werden – die Sache dann endgültig durch ihr Urteil entscheidet. „Wir können die Regierung aber nur vor einem solchen Schritt warnen“, rät Krickler dringend davon ab. „Da das jetzige Urteil in der siebenköpfigen Kammer aber mit 6:1 recht eindeutig ausgefallen ist, sind die Chancen, dass einem solchen Antrag stattgegeben wird, aber ohnehin gering.“
HINWEIS: Das Urteil steht hier zum Download bereit.