Anfang Oktober 1997 hat die Europäische Menschenrechtskommission in einer Beschwerde gegen das Vereinigte Königreich entschieden, daß eine unterschiedliche Mindestaltersgrenze für hetero- und homosexuelle Handlungen eine Verletzung der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) darstellt: Es bestehe keinerlei objektive und vernünftige Rechtfertigung für die Beibehaltung eines höheren Mindestalters für homosexuelle als für heterosexuelle Handlungen, und seine Anwendung offenbare eine diskriminierende Behandlung in der Ausübung des Rechts des Beschwerdeführers auf Achtung seines Privatlebens gemäß Artikel 8 der Konvention, führte die Kommission in ihrer Begründung aus.
Weiters stellte die Kommission fest, daß das vermeintliche Recht einer Gesellschaft, homosexuelle Handlungen zu mißbilligen, keineswegs eine objektive und vernünftige Rechtfertigung für eine Ungleichbehandlung im Strafrecht darstelle.
Michalek soll Notmaßnahmen zur Garantie der Menschenrechte ergreifen
„Genau 100 Tage sind seit Veröffentlichung dieses denkwürdigen Urteils, das natürlich direkte Auswirkungen auf Österreich, insbesondere auf § 209 StGB, haben muß, vergangen“, erklärt Waltraud Riegler, Obfrau der Homosexuellen Initiative (HOSI) Wien, „doch der Nationalrat ist bisher völlig untätig gewesen. Wir fordern daher nicht nur Parlament und Bundesregierung nachdrücklich auf, für eine sofortige ersatzlose Streichung dieser menschenrechtswidrigen Bestimmung zu sorgen, sondern appellieren in einem Offenen Brief auch an Justizminister Michalek, in der Zwischenzeit Notmaßnahmen zum Schutz der Menschenrechte der von § 209 Betroffenen zu ergreifen, bis sich der Nationalrat endlich zur ohnehin unvermeidlichen Streichung dieser die Menschenrechtskonvention verletzenden Bestimmung bequemt.“
„Wir fordern daher“, ergänzt HOSI-Wien-Obmann Christian Högl, „die sofortige Freilassung sämtlicher derzeit nach § 209 StGB menschenrechtswidrig inhaftierter Gefangener und die Niederschlagung bzw. Einstellung aller neuen 209er-Verfahren, die gerichtsanhängig werden, durch den Justizminister. Diese Sofortmaßnahmen sollen die durch die EMRK garantierten Menschenrechte auch in Österreich sicherstellen, solange das Parlament mehrheitlich nicht bereit ist, die Menschenrechte uneingeschränkt zu respektieren. Wir fordern darüber hinaus auch eine angemessene Entschädigung für alle seit 1971 nach § 209 StGB menschenrechtswidrig inhaftiert gewesenen Personen. Außerdem erwarten wir von der Bundesregierung eine Öffentliche Erklärung des Bedauerns und der Entschuldigung für das Unrecht, das dieser Staat diesen Menschen in all den Jahren angetan hat.“
Internationale Hilfe
„Die HOSI Wien wird auch alles tun, damit diese permanente Menschenrechtsverletzung durch Österreich im Ausland publik wird“, gibt sich HOSI-Wien-Generalsekretär Kurt Krickler kämpferisch: „Wir werden Betroffene bei weiteren Beschwerden in Straßburg unterstützen und sie an Amnesty International zwecks Adoption als Gewissensgefangene vermitteln. Jenen Opfern des § 209, die noch nicht verurteilt und inhaftiert sind und eine Flucht ins Ausland einer menschenrechtswidrigen Gefängnisstrafe in Österreich vorziehen, werden wir gemeinsam mit unseren Schwesterorganisationen in Skandinavien und den Niederlanden dabei helfen, im Ausland um politisches Asyl anzusuchen. Man kann wohl davon ausgehen, daß eine Verfolgung nach einem Gesetz, das in Straßburg als Konventionsverletzung eingestuft wird, in jedem zivilisierten Land als Asylgrund anerkannt wird.“
„Wir werden auch alles in unser Macht und unseren Ressourcen Stehende tun, um jede Veranstaltung im Rahmen des Menschenrechtsjahres 1998 dazu zu nutzen, auf diese krasse Menschenrechtsverletzung durch Österreich hinzuweisen“, ergänzt Waltraud Riegler. „Außerdem werden wir die EU-Präsidentschaft Österreichs im zweiten Halbjahr 1998 und die Anwesenheit tausender JournalistInnen aus aller Welt ganz sicher dazu nutzen, auf diese Menschenrechtsverletzung so intensiv und so oft wie möglich hinzuweisen.“
„Und sobald der EU-Vertrag von Amsterdam ratifiziert und in Kraft ist – womit gegen Ende des Jahres zu rechnen ist –, werden wir auch versuchen, gegen Österreich ein Verfahren gemäß dem neuen Artikel F a des EU-Vertrags anzustrengen. Dieser sieht ja vor, einem Mitgliedsstaat gewisse Rechte abzuerkennen, falls er ständig die Grundsätze verletzt, auf denen die EU aufgebaut ist. Und die Einhaltung der Menschenrechte gehört eindeutig dazu“, stellt Christian Högl weitere Szenarien dar.
Polit- und Justizskandal ersten Ranges
Die bisherige Haltung der ÖVP zum § 209 StGB ist nicht nur menschenrechtswidrig, sondern auch aussichtslos und daher nicht länger aufrechtzuerhalten. Wir rufen die ÖVP auf, zur Vernunft und Besinnung zu kommen und ihre Vorurteile gegenüber der Homosexualität aufzugeben. Es ist ein Polit- und Justizskandal ersten Ranges, daß in Österreich ein Gesetz weiterbesteht, das als Verletzung der Europäischen Menschenrechtskonvention eingestuft wurde, und daß Menschen weiterhin aufgrund dieses Gesetzes im Gefängnis sitzen müssen und weiterhin nach dieser Bestimmung verurteilt werden.