Der vom ÖVP-Nationalratsabgeordneten Walter Tancsits gegen die HOSI-Wien-Aktivisten Christian Högl und Kurt Krickler angestrengte Ehrenbeleidigungsprozess geht in eine weitere Runde. Nachdem die beiden Beklagten am 28. April 2005 in erster Instanz freigesprochen worden waren, legte Tancsits dagegen Berufung ein.
Das Oberlandesgericht Wien hat nun am 30. Jänner 2006 der Berufung „Folge gegeben, das angefochtene Urteil aufgehoben und dem Erstgericht nach Verfahrensergänzung die neuerliche Entscheidung aufgetragen“.
Ergreift Oberlandesgericht Partei für Tancsits?
Der dreiköpfige RichterInnensenat vertritt in seinem Urteil die Auffassung, Högl und Krickler hätten mit ihren Äußerungen einen Wertungsexzess vorgenommen, nicht zuletzt auch dadurch, dass sie nicht vollständig über Tancsits‘ Haltung berichtet hätten, etwa dass er damals im Parlament sehr wohl gemeint habe, durch das Nationalfondsgesetz bestehe bereits eine symbolische Anerkennung der homosexuellen NS-Opfer und er eine individuelle (Einzelfall-)Anerkennung einer neuerlichen kollektiven Anerkennung im Opferfürsorgegesetz (OFG) vorziehe. Diese Einschätzung zeigt indes deutlich, dass auch die drei RichterInnen am OLG offenbar nicht verstanden haben (oder nicht verstehen wollten), dass das Nationalfondsgesetz im Gegensatz zum OFG gar keinen Rechtsanspruch auf Entschädigung vorsieht und es ohne einen solchen Rechtsanspruch im OFG weder eine kollektive noch eine individuelle Wiedergutmachung geben kann. Rechtsanwalt Thomas Höhne, der die HOSI Wien in diesem Verfahren vertritt, hat in seiner Gegenausführung zur Berufung diese Aspekte ausführlich dargelegt, aber das OLG hat diese Argumente vollkommen ignoriert. Es drängt sich daher der starke Verdacht auf, dass das OLG hier einseitig für Tancsits Partei ergriffen hat.
Gilt Meinungsfreiheit in Österreich nicht für Schwulenaktivisten?
„Es erstaunt auch“, erklärt Christian Högl, „dass in ähnlich gelagerten Fällen prominente Journalisten und Professoren (z. B. Oberschlick, Pelinka), aber auch Politiker sehr wohl Recht bekommen haben und ihre Verfahren entweder schon vor dem OLG oder in Straßburg gewonnen haben, obwohl sie schärfere Aussagen formuliert haben als wir. Es ist nicht zu übersehen, dass hier mit zweierlei Maß gemessen bzw. geurteilt wird. Offenbar haben Schwulenaktivisten in Österreich geringere Meinungsfreiheit. Bloß: Wir gingen aufgrund der Judikatur davon aus, dass auch wir dasselbe Recht auf Meinungsfreiheit hätten.“
Will ÖVP-Politiker auch ÖVP-kritische HOSI Wien finanziell ruinieren?
„Wir sind überrascht über diese Extrarunde vor dem Landesgericht“, ergänzt Kurt Krickler. „Das OLG hätte das erstinstanzliche Urteil ja aufheben und uns gleich verurteilen können. Dann hätten wir jetzt gleich nach Straßburg gehen und dieses Urteil dort beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) anfechten können. So aber kommen jetzt noch unnötige Kosten für diese Extrarunde sowie danach für die neuerliche Befassung des OLG dazu. Sollten wir jetzt in erster Instanz verurteilt werden, werden wir sicherlich berufen, und vermutlich wird es auch Tancsits tun, sollten wir neuerlich freigesprochen werden, was indes nach der OLG-Entscheidung vom Jänner unwahrscheinlich ist.“
HOSI-Wien-Aktivisten droht bis zu einem Jahr Gefängnis!
„Sollte es die ÖVP darauf angelegt haben – oder gar das OLG, was wir indes nicht annehmen wollen –, die HOSI Wien mit diesem Verfahren finanziell ruinieren zu wollen, dann wird ihr das nicht gelingen“, so Krickler weiter, „wiewohl inzwischen über 10.000 Euro an Verfahrenskosten angefallen sind. Mit den möglichen Geldstrafen und noch immer drei Instanzen vor uns könnte sich dieser Betrag noch leicht verdoppeln. Die mögliche Absicht der ÖVP, eine ihrer entschiedensten KritikerInnen auf diese Art mundtot machen zu wollen und bei diesem Vorhaben Österreichs Gerichte als willige Vollstrecker zu benutzen, wird trotzdem nicht aufgehen. Wir werden international um Spenden aufrufen und auch in Österreich Benefizveranstaltungen durchführen, um die Verfahrenskosten aufzubringen.“
Bekanntlich hat sich die HOSI Wien von Anfang an der Widerstandsbewegung gegen Schwarz-Blau angeschlossen und ruft regelmäßig zur Abwahl der Regierung Schüssel auf. Krickler hat im August 2000 auch eine NGO-Delegation bei ihrem Besuch bei den drei EU-Weisen in Heidelberg angeführt.
„Politisch haben wir die Sache ja auf jeden Fall schon gewonnen“, tröstet sich Krickler. „Mit dem Anerkennungsgesetz 2005 wurde ja bekanntlich das OFG novelliert und die wegen ihrer sexuellen Orientierung vom NS-Regime Verfolgten endlich in den Kreis der Anspruchsberechtigten aufgenommen. Auch diesen Umstand hat das Oberlandesgericht übrigens ignoriert, was ein weiteres bezeichnendes Licht auf seine ‚sorgfältige‘ Arbeit wirft! Es wird vielleicht für uns ein teurer Sieg, aber er ist auf jeden Fall diese Kosten wert!“
SOS Meinungsfreiheit: Versäumen Sie nicht den Schauprozess gegen ÖVP-kritische NGO-Aktivisten!
Am Landesgericht für Strafsachen Wien wird nun am Dienstag, 14. März 2006 um 9 Uhr (Saal 305, 3. Stock, Wickenburggasse 22) eine weitere – öffentliche – Hauptverhandlung stattfinden. Die HOSI Wien ladet Interessierte, insbesondere VertreterInnen der Medien, zu dieser Gerichtsverhandlung ein und hat auch wieder Menschenrechtsorganisationen, wie die Internationale Helsinki-Föderation für Menschenrechte und amnesty international ersucht, ProzessbeobachterInnen zur Verhandlung zu entsenden.
Zum bisherigen Geschehen hat die HOSI Wien eine eigene Web-Abteilung erstellt:
SOS Meinungsfreiheit.
Siehe auch Aussendung vom 14. März 2006.
Weitere Infos in unseren Medienaussendungen aus dem Vorjahr:
12. Jänner 2005
27. Jänner 2005
4. März 2005
8. März 2005
17. März 2005
11. April 2005
15. April 2005
26. April 2005
28. April 2005
6. Mai 2005
1. Juni 2005
7. Juli 2005
Siehe auch frühere Medienaussendungen zum selben Thema:
1. Juni 2001
7. Juni 2001
14. April 2003
4. Mai 2003
5. Juni 2003